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Kultur

Shim Ah-jin: „Der Mann, der weinte“ (2022)

2023-06-13

ⓒ Getty Images Bank

„Ich habe gehört, du bist krank, da habe ich etwas Abalone-Brei mitgebracht“, sagte Oh.

Aber Hoya saß ruhig auf dem Sofa, ohne auf die Stimme von Oh zu reagieren. In diesem Moment sahen Oh und ich dasselbe. Ein riesiger Klumpen Traurigkeit, der sich in einem Abgrund verirrt hatte, verbrannte seinen eigenen Körper nicht mit Feuer, sondern mit Tränen. Ja, tatsächlich. 

Als ich noch gelebt hatte, konnte ich Oh nicht als Partner für eine Beziehung akzeptieren, aber als treuen Freund und Mitarbeiter. Er war anspruchsvoll und unflexibel, aber er wusste genug darüber, wie man in dieser schäbigen Welt überleben konnte. Für mich, für jemanden, für den er einmal Gefühle gehabt hatte, gab sich Oh ein bisschen mehr Mühe. 



Es war drei Tage nachdem sich mein Todestag zum ersten Mal gejährt hatte und beinahe ein halbes Jahr, nachdem er meinem letzten Wunsch entsprechend, in die Firma gekommen war, in der ich gearbeitet hatte. 

Ich war als Geschenk an mich selbst zu meinem fünften Jahr in dieser Firma nach Osteuropa gereist, und dort hatte das Schicksal mich und Hoya zusammengeführt. Keiner von uns beiden hatte gewusst, dass ein gefährlicher Geselle mit dem wissenschaftlichen Namen „gastrischer so und so“ mit uns mitgereist war. 

Mein Schluckauf, den Hoya so niedlich fand, war das erste Anzeichen eines Magen-Adenokarzinoms. Wir verbrachten zwei Jahre zusammen, ein Jahr voller sorgloser Liebe und ein weiteres Jahr voller Sorgen. Seit meinem Tod nahm Hoya schnell das Gewicht der Traurigkeit an und vergrub sich darin.



Hoyas Körper hob sich vom Boden. Aber Oh konnte das Gewicht von jemandem, der immer doppelte Portionen und eine Schale Reis mehr hatte, nicht tragen. Schon lag er auf dem Boden, zerquetscht unter Hoyas riesigem Körper. 

Der lilafarbene Schal fiel auf die beiden. Der Anblick des Mannes, der versucht hatte, den anderen umzuwerfen und nun direkt neben ihm lag, war erbärmlich. 

Als ich mich ihnen leise näherte, sahen mich die beiden Männer gleichzeitig an. Oh, der sonst kaum weinte, hatte Tränen in den Augen. Hoya weinte und die Tränen flossen in breiten Strömen wie der Fluss Nakdonggang. 

Es war Oh, nicht ich, der dem weinenden Mann die Schulter tätschelte.




Shim Ah-jin (*1972): „Der Mann, der weinte“ (2022) 

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