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Kultur

Ban Su-yeon: „Tongyeong“ (2015)

2023-02-14

ⓒ Getty Images Bank

Ich war eingeschlafen, als das Telefon klingelte. Ich hatte vor zwei Stunden zwei Flaschen Soju geleert und mein Kopf pochte von einem anhaltenden Kater. Dann erinnerte ich mich plötzlich an Mutter.

„Hyeon-taek!“, hörte ich die Stimme.

„Mutter?“

„Ich bin es, deine Schwester. Mama ist gerade gestorben.“

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte vorgehabt, nach Korea zu kommen, nachdem ich morgens ein paar Dinge erledigt hatte. Aber Mutter war in diesen wenigen Stunden gestorben. Auch nachdem man mir gesagt hatte, dass ihr nicht mehr viele Tage blieben, hatte ich gezögert, und nun hatte ich nicht bei ihr sein können, als sie starb.



Wenn es nicht so gut lief, war ich so müde, dass ich mich am liebsten dort zusammengerollt hätte. Wenn es gut lief, wollte ich sogleich damit prahlen. Aber ich ging nicht zurück. Nicht, weil meine Mutter, die mich in einer Höhle aufgezogen hatte, dort war, nicht, weil mein Vater, der mich nie beim Namen gerufen hatte, dort war. Ich dachte, ich könnte nicht als ich selbst leben, in dieser Stadt, die alles miterlebt, vieles gedeutet und erinnert und kein Vergessen zugelassen hat. Ich glaubte, dass ich mein Schicksal, das in ihren Köpfen bereits vorbestimmt war, nicht akzeptieren konnte.



„Er kam zu mir, nachdem du nach Kanada gezogen warst und seine Mutter gestorben war. Er sagte, er wolle sich um unsere Mutter kümmern, als wäre sie seine eigene. Er sagte, er sei schuld daran, dass du dieses Land verlassen wolltest. Er sagte ihr, sie solle ihn als dich betrachten. Mama war zuerst wütend, aber später verstanden sie sich gut. Er nannte sie ‚Mutter‘ und schickte ihr Fische und andere Sachen in die Ferien oder wenn die Jahreszeiten wechselten.“

Ihr Flüstern war süß wie ein Wiegenlied.

„Hyeon-taek, löse deine Hand. Schlaf nicht mit der geballten Faust.“

Ich hatte das Gefühl, jemand würde meine Hand streicheln, aber ich konnte nicht herausfinden, ob es meine Mutter oder meine Schwester war, ob es in einem Traum oder im wirklichen Leben war.

 



Ban Su-yeon (*1966): „Tongyeong“ (2015)

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