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Kultur

Kim Yi-jeong: „Sein Zimmer“ (2010)

2023-01-31

ⓒ Getty Images Bank

Punkt 17.20 Uhr geht in seinem Zimmer das Licht an. Jeden Tag. Vor dem dunkler werdenden Himmel verwandelt sich sein Zimmer augenblicklich in einen hellen Salon. Wieder blicke ich in sein erleuchtetes Zimmer.

Sein Raum ist ein zweistöckiges, 30 Quadratmeter großes Studio, nicht anders als meines. Wenn es etwas gibt, das seinen Raum von meinem unterscheidet, dann sind es die alten Vorhänge, die fünfzig oder sechzig Zentimeter über dem Fensterbrett enden. Sie hängen dort wie ein schlecht sitzender Rock, weil die normalgroßen Vorhänge zu klein für die hohen Atelierfenster sind. Ich kann genau so viel vom Inneren des Raumes sehen, wie durch die Lücke sichtbar ist. Ich kann deutlich seinen Oberkörper sehen, wenn am Schreibtisch sitzt.



In Unterwäsche gekleidet, näht er an einem Kleidungsstück. Jeder Stich sorgfältig und liebevoll ausgeführt. Er ist völlig ins Nähen vertieft, als wären seine Augen und seine Kleidung eins geworden.

Ich verliere mich im Anblick seiner Näharbeiten. Beim Nähen sieht er aus wie jemand, der den ganzen Tag liest, ohne sich zu bewegen oder alleine zu trinken. Er ist immer allein, wirkt aber genauso erfüllt wie ein Mann in enger Umarmung mit seiner Geliebten. Er ist allein, wirkt aber nicht einsam.



Ich erhebe mein Glas in Richtung seines in Dunkelheit gehüllten Zimmers.

„Du weißt, dass dein Vater heute Geburtstag hat, oder?“, fragt Mutter. „Das ist genau zehn Jahre her. Ich frage mich, wo er jetzt ist.“

Mutters Stimme sinkt tief ins Glas. Ich nicke, während ich seinen dunklen Raum im Auge behalte.




Kim Yi-jeong (*1960): „Sein Zimmer“ (2010)

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