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Nordkorea

Die Mittelschicht in Nordkorea

#Schritte zur Wiedervereinigung l 2023-04-05

Schritte zur Wiedervereinigung

ⓒ YONHAP News

Laut einer zweijährlichen Umfrage zu Sozialfragen durch das südkoreanische Statistikamt Statistics Korea sahen sich 2021 nahezu 60 Prozent der Befragten als Angehörige der Mittelschicht. Jede Definition des Begriffs “Mittelschicht” ist dabei eher unscharf. Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zählt Haushalte mit einem Einkommen von 75 bis 200 Prozent des mittleren Pro-Kopf-Nationaleinkommens zur Mittelschicht. 2020 lag das mittlere Monatseinkommen einer vierköpfigen südkoreanischen Familie bei 4,75 Millionen Won. Auf der Grundlage der OECD-Definition gehörten in Südkorea Vier-Personen-Haushalte mit einem Monatseinkommen von 3,56 bis 9,5 Millionen Won zur Mittelschicht. Eine solche Mittelschicht gibt es interessanterweise auch im sozialistischen Nordkorea, das nach außen hin eine eher gleiche Verteilung des Wohlstands innerhalb der Gesellschaft propagiert. Zum Thema sagt Jeong Eun-mee vom Korea-Institut für Nationale Vereinigung in Südkorea, die eine Studie mit dem Titel “Die nordkoreanische Mittelschicht” herausgegeben hat: 


Auf der Grundlage von Daten internationaler Organisationen und Interviews mit nordkoreanischen Flüchtlingen können Haushalte in Nordkorea mit einem monatlichen Einkommen von 100 bis 150 Dollar als Mittelschicht definiert werden. Solche im niedrigen Einkommensbereich geben mehr als 50 Prozent ihres Gelds für Nahrungsmittel aus, während der Wert für die Mittelschicht, die Geld für Kultur- und Freizeitaktivitäten sowie für Kleidung ausgeben will, bei unter 50 Prozent liegt. Sie sparen etwa zehn Prozent ihres Einkommens für schlechtere Tage. Die meisten Nordkoreaner haben Fernsehgeräte, Radios und Fahrräder, während viele Angehörige der Mittelschicht im Vergleich zu den Geringverdienern auch Kühlschränke, Waschmaschinen, Computer und Mobiltelefone besitzen. 


Die von Nordkorea im Jahr 2000 publizierte “Enzyklopädie für Korea” beschreibt die Mittelschicht als eine soziale Klasse, die ein Leben in relativem Wohlstand führt. Wie entstand die Mittelschicht? Die Zeit der Hungersnot Mitte der 1990er Jahre, die im Land auch als “mühsamer Marsch” bezeichnet wird, hat das Leben zahlreicher Bürger bedroht. Nach Schätzungen starben damals Hunderttausende im Land aufgrund der Nöte. Viele suchten einen Ausweg, indem sie auf privaten Märkten Handel trieben. Zahlreiche Händler kamen dadurch zu Wohlstand. Ein Flüchtling erzählt: 


Damals machte ich viel Geld. Nachdem ich Artikel wie Maispulver verkauft hatte, konnte ich meine Sparbüchse füllen. Ich konnte durch eine einzige Transaktion mehr Geld verdienen als was ich viele Jahre lang insgesamt an Lohn von meinem Unternehmen bekommen hatte. 


Mit der Ausdehnung des privaten Markts tauchte eine Schicht wohlhabender Personen auf, die als Donju bezeichnet werden und die eine Mittelschicht mit speziellen Ausgabegewohnheiten bilden: 


Nach der Periode des mühsamen Marschs entstanden überall in Nordkorea Märkte, was zum Aufstieg einer neuen Gruppe mit nennenswertem Vermögen führte. Diese Gruppe entwickelte sich mit Blick auf die Produktion und den Verbrauch zur Mittelschicht. Abgesehen von der Ausdehnung des Markts trug auch die staatliche Politik zum Wachstum der Mittelschicht bei. Das Regime von Kim Jong-un führte das “sozialistische Managementsystem für Unternehmensverantwortung” ein, um wirtschaftlichen Einheiten einschließlich Fabriken mehr Selbstständigkeit zu verschaffen. Einer der Kernpunkte des neuen Systems war es, den Unternehmen zu erlauben, privates Kapital für das Management einzusetzen. Die Donju-Klasse spielte in diesem Prozess eine große Rolle, wodurch die Mittelschicht weiter gewachsen ist. Vor dem Hintergrund der drastischen Veränderungen im wirtschaftlichen Umfeld und der staatlichen Politik konnte Nordkoreas Mittelschicht rasch wachsen. 


Jeong teilt die nordkoreanische Mittelschicht in drei Gruppen ein: solche mit Macht, Fachleute sowie Personen im Unternehmensbereich. Zu denen mit Macht zählt sie Beamte und Manager im mittleren und unteren Rang, die ihren Wohlstand mehrten, indem sie ihren Status innerhalb der Partei, der Behörden oder des Militärs nutzten. Fachleute sind demnach solche, die ein hohes Bildungsniveau und spezielles Wissen aufweisen. Obwohl ihr Familienhintergrund als eher schlecht gilt, können sie dank ihres akademischen Wissens Kapital anhäufen. Sie arbeiten zumeist im Bereich der Weiterbildung, der Technologie, im Gesundheitswesen oder auch im künstlerischen Bereich. Die Personen im Unternehmensbereich umfassen ein größeres soziales Spektrum, darunter auch Arbeiter, Hausfrauen und Ruheständler. Sie verbringen den Großteil ihrer Arbeitszeit mit Marktaktivitäten: 


Die Personen der Mittelschicht mit Macht haben einen guten Familienhintergrund. Die mächtigen Leute machen Geld in der Form von Bestechungsgeldern, wenn sie ihre Privilegien und Weisungsbefugnisse für Arbeitskräfte nutzen. Fachleute wiederum arbeiten als Lehrer, Ärzte oder Wissenschaftler, und sie häufen Vermögen an, indem sie ihr Wissen oder ihre Technologie ausnutzen. Für die unternehmerisch Tätigen ist es sehr wichtig, enge Beziehungen mit der Mittelschicht in Machtpositionen zu knüpfen, weil sie ein hartes Vorgehen und neue Vorschriften verhindern müssen. Sie bestechen deshalb regelmäßig Funktionäre. Die beiden Gruppen gehen eine Art symbiotische Beziehung ein. 


Die Mittelschicht in Nordkorea zieht schon seit den Anfangsjahren des sozialistischen Regimes große Aufmerksamkeit auf sich. Der Republikgründer Kim Il-sung betonte, das Land sollte die Produktivität steigern, so dass alle Bürger einen Lebensstandard genießen könnten, den schon die Mittelschicht in der Vergangenheit gehabt habe. Das sozialistische Ziel richtete sich darauf, dass alle Reis mit Rindfleischsuppe essen können, Kleidung aus Seide tragen und in luxuriösen Wohnungen wohnen. Der jetzige Machthaber Kim Jong-un hat diese Vorgaben weiter verfolgt. Er propagiert dies mit dem Slogan des “Aufbaus einer zivilisierten sozialistischen Nation”. Der Lebensstil und das Konsumverhalten der Mittelschicht hat sich unter Kim Jong-un verändert:


Während der vorangegangenen Kim-Jong-il-Ära, als Nordkorea sich nur schwer von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten während der Periode des mühsamen Marschs erholen konnte, war die quantitative Einschätzung in jeder Hinsicht wichtig. Zum Beispiel war es die erste Sorge der Menschen, wieviel Reis sie essen und wie oft sie Kleidung kaufen konnten. Unter Kim Jong-un hingegen wurde die Qualität als wichtiger eingestuft. Die Menschen sind jetzt daran interessiert, wie gut der Reis schmeckt und wie modisch die Kleider sind. Viele wollen die schöne Dekorierung ihrer Wohnung vorführen, um zu zeigen, wie wohlhabend sie sind. Mit anderen Worten, wie sie von anderen gesehen werden, ist ein wichtiger Faktor, wenn es um den Konsum geht. 


Die junge nordkoreanische YouTuberin Song-A, die schon im Rahmen dieser Sendereihe vorgestellt worden ist, erklärte früher einmal in fließendem Englisch, dass ihr Lieblingsbuch “Harry Potter” sei. Auf ihrem Kanal stellte sie beispielsweise auch den Munsu-Wasserpark in Pjöngjang vor. Demnach kostet der Eintritt 20.000 nordkoreanische Won. Wenn man bedenkt, dass ein nordkoreanischer Arbeiter durchschnittlich 3000 Won verdient, gehen praktisch sieben Monatslöhne auf eine Eintrittskarte für den Park drauf. Seit Kim Jong-un an der Macht ist, hat Nordkorea zahlreiche Einrichtungen für die Mittelklasse gebaut. Große kommerzielle Einrichtungen, Bäckereien, Restaurants, Friseurläden sowie Sport- und Freizeitanlagen sind unter den Bewohnern sehr populär. Die Cafés stellen professionelle Baristas ein, und Restaurants, die sich auf Pizza und Pasta oder auf Sushi spezialisiert haben, boomen. Es scheint, als ob die Regierung den Dienstleistungssektor aktiv fördert, mit der Mittelschicht im Blick:


Sobald die Menschen ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, Lebensmittel, Kleidung und Unterkunft eingeschlossen, entwickeln sie Wünsche für mehr Kultur und Konsum. Die Bauprojekte des Kim-Jong-un-Regimes in den vergangenen zehn Jahren haben sich darauf gerichtet, die Freizeit- und Erholungsanlagen wie etwa Thermalbäder, das Ski-Resort am Masik-Pass und den Mirim-Reitclub zu vergrößern. Das Land baute solche Kultureinrichtungen, um den Konsumwunsch der Menschen zu befriedigen und auch Gewinne zu erzielen. 


Auch wird gesagt, dass sich südkoreanische Trends in Nordkorea rasch verbreiten. Nordkorea verlangt von den Bürgern, dass sie sich im Einklang mit sozialistischen Standards kleiden. Trotz solcher Bestimmungen gewinnen südkoreanische Modetrends und Frisuren immer größere Popularität in der Mittelschicht: 


Die Mehrheit der nordkoreanischen Bevölkerung ist bereits mit südkoreanischer Kultur in Berührung gekommen. Die Nordkoreaner sind sehr am Lebensumfeld, an Mode sowie Schmuck interessiert, die sie in südkoreanischen Filmen oder TV-Serien sehen. Ihr Interesse an der südkoreanischen Popkultur, auch als Hallyu bekannt, geht darüber hinaus, sich Hallyu-Inhalte bloß anzusehen. Das spiegelt sich auch im Markt wider. Kleidung im südkoreanischen Stil sind im nordkoreanischen Markt erhältlich, und die Nachfrage dafür steigt. Die Regierung glaubt, dass dieses Phänomen gegen die Erhaltung des Regimes geht. Nach dem siebten Kongress der Arbeiterpartei im Jahr 2016 hat sie das Vorgehen gegen “nicht-sozialistisches und anti-sozialistisches Verhalten” verstärkt und entsprechende Gesetze im Kraft gesetzt. Der wichtigste Grund dafür ist, den Einfluss von Hallyu auf die Bürger zu verhindern. Das heißt auch, Hallyu sitzt bereits tief im Leben der Nordkoreaner und setzt Standards für ihren Lebensstil. 


Nordkorea hat infolge von Naturkatastrophen mit einer Nahrungsmittelknappheit zu kämpfen. Die Situation hat sich wegen der internationalen Sanktionen und der Grenzschließungen während der Corona-Pandemie weiter verschlechtert. Beobachter gehen davon aus, dass die nordkoreanische Mittelschicht als Folge davon kleiner werden könnte: 


Nordkoreas Mittelschicht ist im Markt und Konsum verankert. Doch die lokale Wirtschaftskraft hat sich infolge der Pandemie weiter abgeschwächt. Ein reger Export und Import beschleunigen die Verbreitung von Wohlstand, doch die Grenzschließungen zwangen das Land dazu, einheimische Ressourcen nur intern zirkulieren zu lassen. Mit der Verschärfung der wirtschaftlichen Probleme werden einige Gruppen unweigerlich im Wettbewerb zurückfallen. Das fängt bei Gruppen an, die nur eine schwache Verbindung zur herrschenden politischen Klasse haben. Als Folge davon könnte die Mittelschicht kleiner werden und die nordkoreanische Gesellschaft an Dynamik verlieren. 


Das Wachstum der nordkoreanischen Mittelschicht in den vergangenen 20 Jahren ist ein wichtiger Aspekt, an dem sich die Veränderungen der Gesellschaft ablesen können. Es scheint, als ob die Verhaltensmuster der Nordkoreaner, speziell der Mittelschicht, viefältiger geworden sind. Doch eine schrumpfende Mittelschicht könnte die Polarisierung in der nordkoreanischen Gesellschaft verstärken.

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