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Kultur

Choi Il-nam: „Die Geschichte vom Beifußkraut“

2022-04-12

ⓒ Getty Images Bank

In-sun hörte auf, das Beifußkraut zu pflücken, und sah zum Berg hinüber. Die Frühlingssonne fühlte sich warm an, als läge man kuschelig unter einer Bettdecke und träumte noch. Das tat gut, so gut.

Ihr Körper zuckte und ihr Herz pochte. Die Sonnenstrahlen drangen durch den dünnen Stoff auf ihrem Rücken, kitzelten sie und lösten plötzlich den Drang in ihr aus, an etwas zu nagen oder zu zerbeißen.



In-sun, die sich in diesem Frühjahr fast einen Monat lang nur von Beifußbrei ernährt hatte, ohne auch nur ein einziges Reiskorn zu sehen, befürchtete insgeheim, dass das Baby ihrer Mutter so mattgrün wie der Beifuß zur Welt kommen würde. Nicht nur das, auch die Haut ihrer Mutter schien allmählich grünlich zu werden.

Wenn sie austreten ging, schienen auch ihr Kot und sogar ihr Urin grün gefärbt zu sein. Und wenn sie irgendeinen Teil von sich auswringen könnte, würde wahrscheinlich dunkle Beifußflüssigkeit austreten, ähnlich dem Durchfallausfluss eines Huhns mit Syphilis.


Sie spürte den Speichel an ihren Backenzähnen, der über die Reiskörner zu laufen begann. In-sun wiederholte, was sie eben getan hatte. Diesmal nahm sie mehr Reiskörner. Sie spürte, wie das milchige Reiswasser ihr die Kehle hinunterlief. Sie kaute weiter.

Da beschloss sie, den Reis mit nach Hause zu nehmen und ihn für ihre Mutter zu kochen. Ohne zu zögern stellte sie ihren Korb neben den Reiskrug und schaufelte den Reis auf den Beifuß.

Da gab es einen lauten Knall. Sie sah Funken vor ihren Augen und fiel nach vorn. Und dann spürte sie, wie eine raue Hand von hinten heftig ihr Haar packte.

„Du kleine Göre! Wie kannst du es wagen, mich zu bestehlen?“

Erst da wurde In-sun bewusst, dass der Reis jemand anderem gehörte und sie soeben beim Stehlen erwischt worden war. Sie wurde rot vor Scham und wusste nicht, was sie tun sollte.




Choi Il-nam (*1932): „Die Geschichte vom Beifußkraut“

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